Gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft, der Politik und im privaten Raum ist immer noch nicht erreicht. Dafür gibt es vielfältige Gründe auf mehreren Ebenen. Einer davon lässt sich auf ungleiche Geschlechterverhältnisse zurückführen, wie zum Beispiel gesellschaftlich bedingte Rollenprägungen und stereotype Zuschreibungen, mit denen Mädchen* immer noch aufwachsen sowie strukturell vorhandene Ungleichheit. Die höhere Übernahme von Care-Arbeit, der Gender Pay Gap, die Unterrepräsentation in Spitzenämtern und in der Politik, eine starke Vertretung im Niedriglohnsektor sind Beispiele dafür, dass Frauen* und Mädchen* immer noch von der stärkeren Verortung im privaten Bereich geprägt sind. Die Folge ist oftmals, dass sie sich insgesamt weniger an gesellschaftlichen und politischen Prozessen beteiligen als Jungen* und junge Männer*. Dadurch sind sie weniger sichtbar und nehmen sich selbst oft weniger als politisch handelnde Akteur*innen wahr (vgl. DJI- Survey AID:A 2012 – 2019).
Prekäre Lebensbedingungen oder die Betroffenheit von Mehrfachdiskriminierung wie z. B.,
führen oftmals zu weiteren Hürden und Barrieren, die sie zusätzlich an der Mitbestimmung und Mitgestaltung hindern.
Ausschluss- und Diskriminierungserfahrungen von Mädchen*, werden zudem selten gesellschaftlich wahrgenommen oder thematisiert. Wenn es z.B. um Jugendbeteiligung geht, werden besondere Bedürfnisse oftmals nicht genug berücksichtigt. Das heißt, nicht alle Stimmen, die vorhanden sind, werden letztendlich auch miteinbezogen.
Hinzu kommt, dass politische Räume immer noch männlich und weiß dominiert ist. Vielfältige Vorbilder unterschiedlicher Geschlechter und Hintergründe fehlen bzw. sind oftmals nicht sichtbar. Das bestätigt auch die SINUS-Studie: Politiker*innen werden von jungen Menschen mehrheitlich als ältere weiße Männer zwischen 45 und 60 Jahren wahrgenommen. Laut mehreren Jugendstudien interessieren sich jugendliche Mädchen* genauso stark für politische Themen wie Jungen* (SINUS Studie, Jugendstudie 2019, Jugendstudie BW 2020). Im Erwachsenenalter jedoch sind Frauen* in politischen Ämtern unterrepräsentiert. Hier stellt sich die Frage, wo Ausschlüsse stattfinden oder Möglichkeiten verwehrt bleiben.
Gleichzeitig ist auch die Beteiligung von Mädchen* letztendlich niedriger als das vorhandene Interesse an Politik (Sinus-Studie, Jugendstudie BW) und der Wunsch nach Mitsprache ist vor allem auch bei besonders benachteiligten Mädchen* vorhanden (Ev. Hochschule Darmstadt 2020).
Durch die fehlende Repräsentation werden Perspektiven und Forderungen von Mädchen* und Frauen* allgemein zu wenig in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Deshalb gilt es Barrieren abzubauen und mehr Möglichkeiten für Mädchen* und junge Frauen* zu schaffen sich einzubringen und mitzubestimmen .
Partizipation wird verstanden als Beteiligung, Mitgestaltung, Mitbestimmung, Mitsprechen und somit Teil von Entscheidungsprozessen zu sein. Ein ausschlaggebender Aspekt in Beteiligungsprozessen ist es, zu Veränderungen beitragen zu können. Im Gegensatz zur Teilnahme, die eher eine passive Position meint, ist Partizipation aktiv, selbstorganisiert und geht einher mit Handlungen (vgl. Becker 2015). Doch Partizipation ist ein vielschichtiger Begriff und zeigt sich in unterschiedlichen Formen und Kontexten.
Politische Partizipation
… will politische Entscheidungen unmittelbar beeinflussen und meint gleichzeitig Verantwortung über das Gemeinwohl zu übernehmen (vgl. SKJBBW, SVR 2020: 8).
Gesellschaftliche Partizipation
… meint zusammengefasst „politische Beteiligung und andere Formen des gesellschaftlichen und sozial wirkenden (‚nichtpolitischen‘) freiwilligen Handelns Einzelner im Gemeinwesen“ (SVR 2020: 6). Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet aber auch die Möglichkeit am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – z. B. kulturelle Einrichtungen zu besuchen.
Zivilgesellschaftliches Engagement
… richtet sich nicht mittelbar an politische Entscheidungsträger*innen, sondern meint Aktivitäten, die primär „gesellschaftliche, soziale, ökologische, humanitäre, ethische oder anderweitige gemeinwesenorientierte Ziele“ (SVR 2020: 8) verfolgen. Zivilgesellschaftliches Engagement agiert somit auch außerhalb von Politikentscheidungen und wirkt auf „Veränderungen im Bereich des (außerfamiliären) sozialen Umfelds jenseits genuin politischer Entscheidungen“ (SVR 2020: 17).
Die Wirkung von Partizipation
Die Beteiligung junger Menschen wirkt sich auf mehreren Ebenen positiv aus. Nicht nur die politische Ebene profitiert von den Perspektiven und innovativen Ideen jüngerer Generationen.
Gerade auf der individuellen Ebene fördern Beteiligungsprozesse die Selbstwirksamkeit von Jugendlichen. Sie erfahren Anerkennung indem sie gehört und gesehen und ihre Meinungen und Lebenswelten wertgeschätzt werden. Denn den Partizipierenden werden Fähigkeiten sowie Mündigkeit zugesprochen und das gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl erhöht sich. Ausgrenzung kann abgebaut werden, was gerade für diejenigen, die oftmals zu wenig Raum bekommen oder von bestimmten Zuschreibungen betroffen sind, äußerst wichtig ist. Es geht darum bedarfsgerechte Möglichkeiten zu schaffen, bei denen Mädchen* und junge Frauen* ihre eigenen Meinungen und Lebenswelten in den Vordergrund stellen. Gehört und Wahrgenommen zu werden, ist eine wichtige Erfahrung gerade im jugendlichen Alter und ermutigt dazu, Ungerechtigkeiten nicht einfach hinzunehmen, sondern für die eigenen Belange und Anliegen einzustehen und laut zu werden.
Hinzu kommt, dass durch Partizipationsmöglichkeiten eine Reihe an Kompetenzen entwickelt werden können. Neben der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Phänomenen, Diskursen oder Problemlagen, dem Erlernen demokratischer Prozesse und der Auseinandersetzung mit demokratischen Werten, sammeln sie Erfahrungen im Diskutieren, in der Rhetorik und lernen eigene Interessen und Meinungen zu vertreten (vgl. LpB 2018). Sie erleben Selbstwirksamkeit und übernehmen Verantwortung – in der Zusammenarbeit mit anderen und in Entscheidungsprozessen.
Laut dem Civic Voluntarism Model (Verba/Schlozman/Brady 1995) hängt gesellschaftliche und politische Teilhabe von drei Faktoren ab (vgl. SVR 2020: 9):
Partizipation als Stufenmodell nach Robert Hart (1992) und Wolfgang Gernet (1993) (vgl. Landesjugendring Hamburg)
Von Robert Hart und Wolfgang Gernet wurden in einem Stufenmodell unterschiedliche Formen der Partizipation festgehalten. Nicht immer ist die höchste Stufe die einzig richtige oder beste. Sie ist abhängig von weiteren Faktoren, wie z. B. von äußeren Bedingungen, strukturellen Möglichkeiten oder auch von zeitlichen und finanziellen Ressourcen. Die Stufen dienen zur Orientierung und Einordnung und können dabei helfen, die Beteiligungsqualität zu reflektieren.
1. Fremdbestimmung | Nicht Beteiligung, sondern Manipulation: Sowohl Inhalte als auch Arbeitsformen und Ergebnisse eines Projektes sind hier fremd definiert. „Beteiligte“ Kinder und Jugendliche haben keine Kenntnisse der Ziele und verstehen das Projekt selbst nicht. (Beispiel: Plakate auf einer Demonstration tragen) |
2. Dekoration | Kinder und Jugendliche wirken auf einer Veranstaltung mit, ohne genau zu wissen, warum sie dies tun oder worum es eigentlich geht. (Beispiel: Singen oder Vortanzen auf einer Erwachsenenveranstaltung) |
3. Alibi-Teilnahme | Kinder und Jugendliche nehmen an Konferenzen teil, haben aber nur scheinbar eine Stimme mit Wirkung. Die Kinder und Jugendlichen entscheiden jedoch selbst, ob sie das Angebot wahrnehmen oder nicht. (Beispiel: Vereinsveranstaltungen, Stadtteilgremien, Kinderparlamente) |
4. Teilhabe | Kinder und Jugendliche können ein gewisses sporadisches Engagement der Beteiligung zeigen. (Beispiel: wie Punkt 3 – nur mit erweiterten Teilhabemöglichkeiten) |
5. Zugewiesen, aber informiert | Ein Projekt ist von Erwachsenen vorbereitet, die Kinder und Jugendlichen sind jedoch gut informiert, verstehen, worum es geht, und wissen, was sie bewirken wollen. (Beispiel: Schulprojekte zu unterschiedlichen Themen) |
6. Mitwirkung | Indirekte Einflussnahme durch Interviews oder Fragebögen: Bei der konkreten Planung und Realisation einer Maßnahme werden Kinder und Jugendliche angehört oder befragt, haben jedoch keine Entscheidungskraft. (Beispiel: Projekte kommunaler Stadtteilentwicklung) |
7. Mitbestimmung | Beteiligungsrecht: Kinder und Jugendliche werden tatsächlich bei Entscheidungen einbezogen. Die Idee des Projektes kommt von Erwachsenen, alle Entscheidungen werden aber gemeinsam und demokratisch mit den Kindern und Jugendlichen getroffen. (Beispiel: Projekte kommunaler Stadtteilentwicklung mit verankerten Beteiligungsrechten) |
8. Selbstbestimmung | Auf dieser Stufe wird z. B. ein Projekt von den Kindern und Jugendlichen selbst initiiert. Diese Eigeninitiative wird von engagierten Erwachsenen unterstützt oder gefördert. Die Entscheidungen treffen die Kinder und Jugendlichen selbst; Erwachsene werden gegebenenfalls beteiligt und tragen die Entscheidungen mit. |
9. Selbstverwaltung | Selbstorganisation: Kinder und Jugendliche haben völlige Entscheidungsfreiheit über das Ob und Wie eines Angebotes und handeln aus eigener Motivation. Entscheidungen werden den Erwachsenen lediglich mitgeteilt. (Beispiel: Jugendverband) |
Allgemeine Qualitätsstandards für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen (vgl. BMFSFJ):
Partizipation ist sehr facettenreich und beinhaltet viele Aspekte, die damit in Verbindung stehen. Wichtig ist unserer Meinung nach über die jeweilige alltägliche pädagogische Praxis und die eigene pädagogische Haltung nachzudenken und zu reflektieren.
Wen erreichen wir bisher?
Auch in der pädagogischen Praxis finden oftmals Ausschlüsse statt und nicht immer werden alle Mädchen* und jungen Frauen* von den Angeboten oder Einrichtungen angesprochen oder sind vertreten. Um die Räume bewusst für Mädchen* und junge Frauen* in besonderen Lebenslagen und mit unterschiedlichen Lebensrealitäten zu öffnen, ist es wichtig über die Erreichbarkeit und mögliche Hindernisse an der Beteiligung (z.B. von pädagogischen Angeboten) nachzudenken. Dieser Prozess kann sich aufgrund der Diversität von Mädchen*, aber auch aufgrund der unterschiedlichen Einrichtungen und deren Möglichkeiten, ganz unterschiedlich gestalten. Es ist vor allem ein fortlaufender Prozess, der immer wieder neu gedacht und erweitert werden kann.
Beispiele, worüber nachgedacht werden kann:
Selbstreflexion
Auch die Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit, der Einrichtung und deren Strukturen sowie der Orientierung an pädagogischen Prinzipien sind mit Partizipationsmöglichkeiten verwoben. Ganz unabhängig davon, wie hetero- oder homogen Gruppenkonstellationen sind, sollte immer ein intersektionaler Blick auf die pädagogische Praxis geworfen werden.
Beispiele, die zur Reflexion anregen können:
Partizipationsfördernde pädagogische Haltung
Da es keine allgemeingültige Schritt-für-Schritt Anleitung für gelingende Partizipationsprozesse gibt ist die Haltungsfrage im pädagogischen Kontext sehr wichtig, um flexibel auf unterschiedliche Bedürfnisse und Anforderungen einzugehen. Doch was macht eine partizipationsfördernde pädagogische Haltung aus, die vielfältige Lebenshintergründe der Teilnehmer*innen berücksichtigt und gleichzeitig die Beteiligung und die Mitsprache aller fördert?
Hier geben wir ein paar Anhaltspunkte, die für eine partizipationsfördernde Haltung besonders wichtig sein können:
Handreichung Mädchen* und Beteiligung (Projekt "You matter! Mädchen*_Power_Politik")